weiter geht’s mit Hypothermie und einem Literaturupdate

Akzidentielle Hypothermie

Die Hypothermie ist durch einen Abfall der Körperkerntemperatur (KKT) unter 35°C
definiert. Die häufigste Ursache ist die kalte Umgebung, die sogenannte primäre
Hypothermie. Die sekundäre Hypothermie beschreibt einen Abfall der KKT durch
pathophysiologische Vorgänge. Hauptfaktoren sind eine peripher oder zentral gestörte
Thermoregulation, die fehlende Fähigkeit Wärme zu produzieren oder ein erhöhter
Wärmeverlust. Gründe hierfür sind z.B.:

  • Traumata
    • SHT
    • Polytraumata (Schock)
    • Rückenmarksverletzungen
    • (großflächige) Verbrennungen
  • Medikamente z.B.:
    • Allgemeinanästhesie/Narkose
    • Vasodilatatorisch wirkende Medikamente
  • Metabolische Ursachen z.B.:
    • Ketoazidose
    • Laktatazidose
    • M. Addison
    • Hypoglykämie
  • Atraumatischer Schock
    • Septischer Genese
    • Anaphylaktischer Genese
  • Sonstige z.B.:
    • Kinder
      • Fehlende Fähigkeit zu Shivern
      • große Hautoberfläche
    • Stroke
    • Parkinson
    • Hypothalamusfehlfunktion
    • Hohes Lebensalter
    • Iatrogen z.B. durch kalte Infusionen
    • Erschöpfung

Die Gefahr, eine primäre Hypothermie in entwickelten Ländern zu erleiden, betrifft v.a.
Menschen, die im freien arbeiten und leben. Obdachlosigkeit ist ein großer
Risikofaktor. Auch Kinder und kleine Menschen mit niedrigem BMI haben ein
gesondertes Risiko. Kalte und nasse Orte, Berge mit Hypoxierisiko in der Höhe, sowie
Erschöpfung wirken sich ebenfalls negativ aus.

Wie verlieren wir Wärme und was macht unser Körper?

Der Mensch ist darauf angewiesen seine KKT gleich zu halten (37°C ± 0,5). Die KKT
wird durch das autonome Nervensystem automatisch reguliert (Schwitzen, Shivern (Kältezittern),
Vasokonstriktion, -dilatation).

Wärmeverlust entsteht durch Verdunstungskälte, Wärmeleitung und
Wärmestrahlung. Schutz davor ist das Vermeiden von Nässe, die Isolation mit
Kleidung und die Reduktion der Kontaktfläche mit kalten Stoffen.

Durch sog. Shivering (Kältezittern) kann der Körper unter Energieverbrauch und
Muskelzittern Wärme erzeugen. Je stärker der Kältestimulus, desto stärker das
Shivern. Auch ist Shivern stark abhängig vom intravasalen Glucoselevel. Kinder
können das in den ersten Lebensjahren jedoch nicht. Eine weitere Wärmequelle ist die
Umwandlung von braunem Fett (v.a. bei Kindern). Durch einen Vorgang im Mitochondrium wird ein
Proton vom ATP abgespalten. Dadurch entsteht Abwärme.
Die effektivste Wärmeerzeugung ist die körperliche Betätigung (z.B. Kniebeugen).

Wärmeerhalt? Das lernt man schon im Erste Hilfe Kurs! Warum ist das so wichtig?

Mehrere Studien haben eine stark erhöhte Mortalität bei Traumapatienten gezeigt,
wenn sie zusätzlich hypotherm waren (1,2). Gründe hierfür sind verminderte Inotropie,
Rhythmusstörungen, Kältekoagulopathie* und eine verminderte Immunantwort.

* Abfall um 1 Grad KKT – Gerinnungsaktivität um 10% herabgesetzt (3)

Deshalb nochmal -ganz wichtig- Wärmeerhalt bei allen Patient:innen, v.a. bei Trauma!

Einteilung der Hypothermiegrade

Ein einfaches und empfohlenes Tool zur Einteilung der Hypothermiegrade ist die
überarbeitete Schweizer Hypothermiskala (revised swiss system).

revised swiss system

Die originale Schweizer Hypothermieskala enthielt noch zu erwartende Symptome
und die zugehörige KKT.

original swiss system

Was war nochmal der „Afterdrop„?

Auch wenn sich Patient:innen nicht mehr in der kalten Umgebung aufhalten, kann die
KKT, durch die Zirkulation von zentralem Blut in die kalte Peripherie und zurück zum
Herzen, weiter absinken.

Wie kommen wir auf die Arbeitsdiagnose Hypothermie?

Die meisten Hypothermien geraten vermutlich durch die Auffindesituation und/oder Anamnese
auf unseren Radar. Einen weiteren Hinweis gibt die herabgesetzte
Hauttemperatur. Sonst finden wir den Rest vermutlich durch die (hoffentlich
routinemäßige) Temperaturmessung früher oder später.

Messen der KKT …

Zumindest präklinisch können wir mit unseren Thermometern meistens auch nur
Näherungsweise die KKT bestimmen. Die meisten Rettungsdienstbereiche werden
tympanale Thermometer (Ohrtermometer) einsetzen. Die sind zwar hygienisch, leicht
zu Bedienen und nicht-invasiv, haben jedoch (teilweise) große Nachteile, die von
Hersteller zu Hersteller variieren.

Mögliche Nachteile sind:

  • Nur bei bestimmten Umgebungstempersturen anwendbar (10-40 °C)
  • Ungenau bei Temperaturen unter 20°C
  • Ohrinfektion (otitis media)
  • Ohrenschmalz, Wasser oder Schnee verlegen das Trommelfell

Für eine genauere Messung wird meisten im Ösophagus oder in der Blase
gemessen, was jedoch meistens erst in der Klink vorhanden ist.


Sollte eine Messung prähospital nicht möglich oder ungenau sein, soll das „revised
swiss system“ benutzt werden um die Schwere der Hypothermie zu ermitteln.


Um es nochmal zu erwähnen: Das Vorhandensein von Shivering muss nicht
gegeben sein, da es von vielen Faktoren unterdrückt werden kann! Am Shivern
sollte der Grad der Hypothermie nicht ausgemacht werden!

Also, kommen wir zur Therapie bzw. zu den Maßnahmen

Im Vordergrund steht immer die kausale Therapie, das Erwärmen bzw. die
Prävention vor weiterem Auskühlen. Diese sollte immer umgehend begonnen
werden. Die erste Maßnahme sollte immer die „Evakuierung“ aus der kalten
Umgebung sein. Mit welcher Methode weiter erwärmt wird, hängt vom Grad der
Hypothermie ab. Auf die Reanimation gehen wir gesondert ein. Nachfolgend
Detailliertes, untenstehend eine Tabelle für eine schnelle Übersicht der wichtigsten
Maßnahmen. Es gilt natürlich ausnahmslos vorgehen nach ABCDE.

Grad 1 – wach

  • Warme Umgebung (RTW)
  • Warme und zuckerreiche Getränke
  • Zur Bewegung auffordern
  • Ggf. Nasse Kleidung ausziehen lassen

Sollte der/die Patient:in keine Begleitverletzungen (z.B. Erfrierungen oder Z.n.
Trauma) haben oder sonstige Symptome, kann er/sie auch ambulantisiert
werden, wenn wiedererwärmt.

Grad 2 – Reaktion auf Ansprache – somnolent

  • Liegende Patient:innen vorsichtig umlagern und liegend Transportieren
  • Sollte der Patient shivern oder bereits laufen, kann er auch dazu aufgefordert
    werden, sich zu bewegen (kann den Afterdrop erhöhen)
  • Warme Umgebung (RTW)
  • Ggf. Nasse Kleidung entfernen
  • Hitzepacks auf Brust und Rücken (mit Verbrennungsschutz) wenn vorhanden
  • Monitoring, v.a. Defibrillationspaddels erwägen (suffizientere Detektion von
    schockbaren Rhythmen, minimiert Artefakte von Shivering)
  • Gewärmte VEL i.v. (ggf. i.o)

Grad 3 – Reaktion auf Schmerzreiz oder Bewusstlosigkeit

  • Vorsichtig umlagern, flach lagern
  • Warme Umgebung –> RTW
  • Ggf. nasse Kleidung entfernen
  • Hitzepacks auf Brust und Rücken (mit Verbrennungsschutz) wenn vorhanden
  • Monitoring + Defibrillationspaddels
  • Gewärmte VEL i.v. oder i.o.
  • Bei respiratorischer Insuffizienz Intubation und Narkose nach bewährtem Konzept (RSI, DSI)
  • Transport in ECMO-Zentrum (Temperatur <30°C, RR < 90mmHg, Ventrikuläre HRST)

Der Grad 4 – Die Reanimation durch Hypothermie bekommt einen extra Artikel!

Übersicht Maßnahmen

Hier zu Teil I – Kälteverletzungen

Hier zu Teil 3 – Hypothermer HKS

Bei Fragen, Kritik, Fehlern, Lob, Ergänzungen oder Feedback jeder Art gerne E-Mail oder eine Nachricht auf Instagram. FOAMed lebt durch crowdsourced Peer-Review!

Apropos FOAMed:

Die Kollegen von Rettungsdienst FM haben einen wirklich tollen Artikel geschrieben,
wie man den RTW richtig heizt:

Ordentlich Einheizen – Rettungsdienst FM 

Sebastian Casu mit einem Beitrag zu aktiver präklinischer Erwärmung und Afterdrop: 

BLOG 65: Aktives Erwärmen in der präklinischen Notfallversorgung nach accidenteller Hypothermie: Fluch oder Segen? – Dr. Sebastian Casu (sebastian-casu.com) 

Jürgen Gollwitzer zur Hypothermie: 

Die kalte Jahreszeit – Hypothermiegefahr – #FOAM RETTUNGSDIENST (health.blog) 

Nerdfallmedizin: 

Nerdfallmedizin.de – Hypothermie – ein paar Fakten! 

Quellen:  

Da alle Lehrbuchaussagen etwas veraltet sind habe ich PubMed-Arbeiten genutzt: 

Paal, P.; Pasquier, M.; Darocha, T.; Lechner, R.; Kosinski, S.; Wallner, B.; Zafren, K.; Brugger, H. Accidental Hypothermia: 2021 Update. Int. J. Environ. Res. Public Health 2022, 19, 501. https://doi.org/10.3390/ijerph19010501 

Musi, M. E.; Sheets, A.; Zafren, K.; Brugger, H.; Paal, P.; Hölzl, N.; Pasquier, M. Clinical Staging of accidential hypothermia: The Revised Swiss System, Recommendation of the International Commisssion for Mountain Emergency Medicine (ICAR MedCom). J. Resuscitation March 2021, 162 (182-187). https://doi.org/10.1016/j.resuscitation.2021.02.038 

Beide sind Open Access! und lohnen sich!

Weiter Quellen: 

  1. Helm, M.; Lampl, L.; Hauke, J.; Bock, K.H. Accidental hypothermia in trauma patients. Is it relevant to preclinical emergency treatment? Anaesthesist 1995, 44, 101–107 
  1. Weuster, M.; Bruck, A.; Lippross, S.; Menzdorf, L.; Fitschen-Oestern, S.; Behrendt, P.; Iden, T.; Hocker, J.; Lefering, R.; Seekamp, A.; et al. Epidemiology of accidental hypothermia in polytrauma patients: An analysis of 15,230 patients of the TraumaRegister DGU. J. Trauma Acute Care Surg. 2016, 81, 905–912. 
  1. TRAUMA-INDUZIERTE KOAGULOPATHIE (TIC) • Fachportal für Wehrmedizin & Wehrpharmazie 

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