In der Präklinik gibt es „spannende“ Einsätze wie Reanimationen, schwere Verkehrsunfälle, pädiatrische Notfälle und viele mehr. Die Abläufe solcher Einsätze (sollten) regelmäßig thematisiert werden und sind im besten Fall ins „Blut“ übergegangen: Jede:r weiß, wo angepackt werden muss, alle kennen die Konsequenzen der Handlungsabläufe. Die „sexy“ Themen in der Medizin werden bis aufs Kleinste ausgeschlachtet. Doch was häuft sich denn eigentlich in unserem Alltag? Und was davon geht vielleicht in unserer Routine unter?
Wir wollen uns mit dem „täglich Brot“ im Rettungsdienst beschäftigen und haben uns dafür den
„Sturz unter Blutverdünnung“ und dem damit oftmals verbundenen Schädel-Hirn-Trauma (SHT) genauer angeschaut.
Das Geriatrische Trauma im Allgemeinen:
Bei der Analyse von 126.015 Schwerverletzten zeigte das TraumaRegister der DGU®, dass 37,5 % der Bevölkerung ältere Patient:innen (≥ 60 Jahre) waren. Vergleicht man die Verletzungsmechanismen und Verletzungsmuster zwischen jungen und betagteren Patient:innen fällt auf, dass sich diese unterscheiden. Ältere Traumapatient:innen erleiden häufiger Niedrigenergietraumata und ziehen sich dabei oftmals Schädel-Hirn-Traumata, jedoch seltener abdominale Verlegungen zu. Die Auswertung der therapeutischen Maßnahmen zeigte, dass geriatrische Patient:innen im präklinischen Umfeld im Vergleich zu jüngeren Patient:innen niedrigere Intubationsraten hatten und weniger Volumenersatz bekamen, selbst wenn diese Maßnahme indiziert war. Diagnostische Eingriffe wie CT-Scans wurden in der Notaufnahme restriktiver durchgeführt. Geriatrische Traumapatient:innen erhielten weniger chirurgische Eingriffe bei Hirnverletzungen, Beckenfrakturen und Femurfrakturen. Vergleicht man die verschiedenen Altersgruppen kam man hier zu dem Ergebnis, dass im Alter von 18 bis 30 Jahren die Mortalität bei 7,9 % liegt. Im Vergleich zu 13,0 % im Alter zwischen 60 und 69 Jahren und 21,8 % im Alter zwischen 70 und 79 Jahren. Die höchste Mortalität zeigte doch die Altersgruppe ≥80 Jahren mit einer Mortalität von 36,1 %. Verschiedene Faktoren, welche auf die Mortalität Einfluss haben könnten, wurden hier kritisch diskutiert. Eine erhöhte Mortalität hänge nicht damit zusammen, dass die primären Verletzungen so ausschlaggebend seien, ebenfalls ist es unklar ob die physiologischen Reserven geriatrischer Patient:innen eine schlechte Kreislaufsituation nicht kompensieren können. Was die Vorerkrankungen angeht seien diese unabhängig von einem Trauma der führende Faktor für eine erhöhte Mortalität ab einem Alter ≥65 Jahre. Was den Faktor Medikamente angeht, konnte man einen Anstieg der risikoadjustierten Trauma-Mortalität bei älteren Patienten mit prätraumatischem Warfarin-Konsum nachweisen. Es bestätigte sich, dass geriatrische Patient:innen weniger aggressiv behandelt werden, wodurch oftmals Sekundärschäden abzuleiten waren. Ebenfalls wurden geriatrische Patient:innen untertriagiert. Ursachen hierfür könne die Unterschätzung der Gesamtschwere beim geriatrischen Patient:innen sein, da häufig Niedrigenergietraumata ausreichen, im Vergleich zu jüngeren Patient:innen, welche schwere Verletzungsmuster oft erst bei Hochenergietraumata zeigen. Nicht zuletzt spielt natürlich auch eine Patientenverfügung bzw. Der eigene Wunsch nach eingeschränkten bzw. lebenserhaltenden Maßnahmen eine ausschlaggebende Rolle. (1)
Zusammenfassend:
Die „so alltägliche“ Trauma-Versorgung der geriatrischen Patient:innen ist definitiv noch ausbaufähig.
Das Schädel-Hirn-Trauma (SHT) beim geriatrischen Patient:innen stellt für uns speziell eine Herausforderung dar. Hier kommen bei geriatrischen Patient:innen weitere Faktoren hinzu, welche die Diagnostik im Vergleich zu jungen Patient:innen erschweren, wie z.B. Vorerkrankungen, Neurologische Defizite (z.B. Demenz), eingeschränkte Motorik. (2)
Was bedeutet eigentlich “Blutverdünnung”?
Unterschiede in der Fallkinematik?
In einer prospektiven Beobachtungsstudie haben Dubucs et al. (2020) Patient:innen mit einem Alter von über 65 Jahren, einem milden SHT und einem GCS ≥13 untersucht. Das primäre Outcome waren jegliche Formen der Hirnblutung (ICB, SAB, SDH, EDH). Eingeschlossen wurden 365 Patient:innen mit einem Durchschnittsalter von 86 Jahren. Die Ergebnisse zeigten, dass es einen Unterschied macht, mit welcher Seite des Kopfes die Patient:innen aufschlagen. Hier zeigten die tempoparietal und occipitale Aufschläge im Vergleich zu frontalen Aufschlägen ein 2,54-fach erhöhtes cerebrales Blutungsrisiko. (5)
Unterschiede im Blutungsrisiko (ICB) zwischen den verschiedenen Antikoagulanzien (DOAK vs. Vitamin-K-Antagonisten)?
In einer retrospektiven Beobachtungsstudie wurde 2019 von Cocca et al. 88 Patient:innen mit einem Mindestalter von 64 Jahren eingeschlossen. Das Primäre Outcome war die Untersuchung von Stürzen aus dem Stand oder niedriger unter DOAK oder Vitamin-K-Antagonisten und dem damit verbunden Blutungsrisiko. Ebenfalls eingeschlossen wurde der Faktor Bewusstlosigkeit. Die Ergebnisse zeigen, dass das Risiko initiale eine ICB zu erleiden unter Warfarin höher war. Fehlende Bewusstlosigkeit war kein Ausschlusskriterium für das Vorliegen einer ICB. (6)
Dies bestätigt eine Studie 2021 von Grewal et al. Hier wurden insgesamt 77.834 Patient:innen mit SHT und einem Alter über 65 Jahren eingeschlossen. Das Primäre Outcome war die 30-Tage Mortalität und ein neurochirurgischer Eingriff nach 90 Tagen bei erlittener ICB. Die Ergebnisse zeigten, dass die Antikoagulation mit Vitamin-K-Antagonisten (Warfarin) ebenfalls ein erhöhtes ICB-Risiko generierten. Zwischen den DOAK und den „nicht-antikoagulierten” Patient:innen fanden sich keine Unterschiede im Risiko für eine ICB. Das Ergebnis deckt sich ebenfalls mit den Empfehlungen in der Canadian CT-Head-Rule. (7)
Unterschied in den Auswirkungen von Antikoagulanzien (u.a. Vitamin-K-Antagonisten) und Thrombozytenaggregationshemmer beim geriatrischen Trauma?
Mehrere Studien befassten sich mit den Auswirkungen von Antikoagulanzien und Thrombozytenaggregationshemmern beim geriatrischen Trauma. Unter anderem eine Studie des TraumaRegister der DGU®, die ca. 1 Millionen Patient:innen einschloss. 73.602 (7%) erhielten zum Zeitpunkt ihres Traumas Antikoagulanzien. Bei Patienten unter Antikoagulanzien (DOAK und VKA) zeigte sich eine signifikant längere Verweildauer in der Klinik und ein 2,20 Mal höheres Sterberisiko. (8)
In einer Registerstudie des TraumaRegister der DGU® wurden insgesamt 18.125 Patient:innen mit einem schweren Trauma an mindestens einer Körperregion eingeschlossen. Die Patient:innen wurden eingeteilt in: DOAK, Vitamin-K-Antagonisten und Thrombozytenaggregationshemmer. Der primäre Endpunkt waren die frühe Mortalität (<24h) und die Gesamtmortalität. Der sekundäre Endpunkt definierte die Häufigkeit von chirurgischen Eingriffen (OP). Die OP-Rate war bei der Thrombozytenaggregationshemmer-Patientengruppe signifikant höher als bei der Kontrollgruppe (ohne Antikoagulanzien oder Thrombozytenaggregationshemmer). Eine höhere Gesamtmortalität zeigte sich bei Vitamin-K-Antagonisten ab. (9)
In einer Systemischen Übersichtsarbeit 2022 zeigten Mathieu et al. in einer Metaanalyse, dass das Risiko einer progressiven ICB bei doppelter Thrombozytenaggregationshemmung (Acetylsalicylsäure + P2Y12-Hemmer) signifikant erhöht ist (bei einer „einfachen“ Thrombozytenaggregationshemmung nicht). Ebenfalls steigt das Risiko eines neurochirurgischen Eingriffs bei doppelter Thrombozytenaggregationshemmung. (10)
Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit für eine verzögerte Hirnblutung Stunden nach dem Trauma?
Eine uns bekannte gängige Praxis ist beispielsweise:
Schädelanprall und > 65 Jahre (geriatrisch) -> craniale Computertomogaphie (cCT)
- Keine Antikoagulanzien oder nur Acetylsalicylsäure und cCT ohne pathologischen Befund
-> ambulante Behandlung - Antikoaguliert und cCT ohne pathologischen Befund
-> stationäre Aufnahme + 24h. Überwachung (wegen: Gefahr verzögerte ICB)
Ist es notwendig eine 24h Überwachen durchzuführen trotz cCT ohne pathologischen Befund?
Wie ist die Datenlage?
Mit dieser Frage hats sich eine Metaanalyse beschäftigt. Von insgesamt 5289 Patient:innen waren 1263 antikoaguliert. In einem zweiten zeitverzögerten CT (innerhalb 24 h, routinemäßig oder bei Symptomatik) konnte bei insgesamt 69 Patient:innen eine Hirnblutung festgestellt werden. Darunter waren 25 mit einem DOAK und 44 mit Warfarin antikoaguliert. Die Rate an daraus resultierenden neurochirurgischen Interventionen oder Mortalität waren sehr gering. Das Risiko einer verzögerten ICB unter einem DOAK beläuft sich auf 2,4% gegen 0,4 % ohne Antikoagulanzien. (11)
Fazit:
- Im Vergleich zu jüngeren Patient:innen wird das geriatrische Trauma präklinisch häufig untertriagiert und bekommt seltener leitliniengerechte Behandlung.
- Ursächlich hierfür könne Unterschätzungen der Gesamtschwere sein.
- Ziele:
- Untertriage bei geriatrischen Traumapatient:innen reduzieren
- Adaptierte (geriatrische) Schockraumkriterien (S3 Polytrauma LL) anwenden
- Kommunikation in puncto Maßnahmen, lebenserhaltende Maßnahmen
- Unter Vitamin-K-Antagonisten und doppelter Thrombozytenaggregationshemmung (Acetylsalicylsäure + P2Y12-Hemmer) entsteht ein erhöhtes Risiko eine ICB zu erleiden. DOAK scheinen in diesem Bezug keine Auswirkung zu haben.
- Ebenfalls gehen Stürze, bei denen der Aufschlag tempoparietal oder occipital ist, häufig mit einem erhöhten Blutungsrisiko einher.
- Ein mittleres Risiko besteht für den frontalen Aufprall. Ein Gesichtstrauma gilt als LOW-Risk-Faktor für intrakranielle Blutungen.
- Das Risiko einer verzögerten ICB ist gering. Die Konsequenzen dadurch, in Form von Mortalität oder OP, ist noch viel geringer.
- Der Benefit eines routinemäßig durchgeführten zweiten cCT kann angezweifelt werden.
- Auch der Nutzen einer stationären Aufnahme ist fraglich.
Quellen:
1. Spering C, Lefering R, Bouillon B, Lehmann W, von Eckardstein K, Dresing K, u. a. It is time for a change in the management of elderly severely injured patients! An analysis of 126,015 patients from the TraumaRegister DGU®. European Journal of Trauma and Emergency Surgery. 13. Juni 2020;46(3):487–97.
2. Stein DM, Kozar RA, Livingston DH, Luchette F, Adams SD, Agrawal V, u. a. Geriatric traumatic brain injury—What we know and what we don’t. Journal of Trauma and Acute Care Surgery. Oktober 2018;85(4):788–98.
3. Seiffert J. Thrombozytenaggregationshemmer [Internet]. https://www.gelbe-liste.de. 2020 [zitiert 5. Mai 2023]. Verfügbar unter: https://www.gelbe-liste.de/wirkstoffgruppen/thrombozytenaggregationshemmer
4. Ellen Reifferscheid. Direkte orale Antikoagulanzien [Internet]. 2021 [zitiert 5. Mai 2023]. Verfügbar unter: https://www.gelbe-liste.de/wirkstoffgruppen/direkte-orale-antikoagulantien-doak-noak
5. Dubucs X, Balen F, Schmidt E, Houles M, Charpentier S, Houze-Cerfon CH, u. a. Cutaneous impact location: a new tool to predict intracranial lesion among the elderly with mild traumatic brain injury? Scand J Trauma Resusc Emerg Med. 31. Dezember 2020;28(1):87.
6. Cocca AT, Privette A, Leon SM, Crookes BA, Hall G, Lena J, u. a. Delayed Intracranial Hemorrhage in Anticoagulated Geriatric Patients After Ground Level Falls. J Emerg Med. Dezember 2019;57(6):812–6.
7. Grewal K, Atzema CL, Austin PC, de Wit K, Sharma S, Mittmann N, u. a. Intracranial hemorrhage after head injury among older patients on anticoagulation seen in the emergency department: a population-based cohort study. Can Med Assoc J. 12. Oktober 2021;193(40):E1561–7.
8. Nguyen RK, Rizor JH, Damiani MP, Powers AJ, Fagnani JT, Monie DL, u. a. The Impact of Anticoagulation on Trauma Outcomes. Am Surg. 30. Juli 2020;86(7):773–81.
9. Bläsius FM, Laubach M, Andruszkow H, Lübke C, Lichte P, Lefering R, u. a. Impact of anticoagulation and antiplatelet drugs on surgery rates and mortality in trauma patients. Sci Rep. 26. Juli 2021;11(1):15172.
10. Mathieu F, Malhotra AK, Ku JC, Zeiler FA, Wilson JR, Pirouzmand F, u. a. Pre-Injury Antiplatelet Therapy and Risk of Adverse Outcomes after Traumatic Brain Injury: A Systematic Review and Meta-Analysis. Neurotrauma Rep. 1. August 2022;3(1):308–20.
11. Puzio TJ, Murphy PB, Kregel HR, Ellis RC, Holder T, Wandling MW, u. a. Delayed Intracranial Hemorrhage after Blunt Head Trauma while on Direct Oral Anticoagulant: Systematic Review and Meta-Analysis. J Am Coll Surg. Juni 2021;232(6):1007-1016e5.
3 Responses
Hallo liebes Team,
Wie immer tolle Zusammenfassung und ein klasse Artikel!
Ist denn in Zukunft angedacht ein Screening Tool für die präklinische Versorgung solcher Patienten zu entwickeln? Auch im Hinblick der Art/ Typ der Antikoagulation/ Thrombozytenaggregation. Eine Einteilung in High und Low Risk sind ja nicht unüblich.
LG Lucas
Hallo Lucas,
vielen Dank! Wir hatten hier ein kleines Spam-Problem mit den Kommentaren, deshalb auch die zeitliche Verzögerung. Wir haben dir direkt auf deine E-Mail geantwortet, in der du dir die Frage nach dem Triage-Tool mit der NICE-Guideline zur Head Injury Assessement ja gleich selber beantwortet hast 🙂
LG
Danke für den Beitrag. Interessant zu wissen, dass ältere Traumpatient:innen sich häufiger Schädeltraumas zuziehen. Meine Oma hatte auch letztes einen Hirnschädeltraum und zum Glück ist sie an einen tollen Neurochirurg geraten. https://www.neurochirurgie-lehner.at/kontakt/steyr