Zu den stiefmütterlich behandelten Themen gehören neben psychiatrischen Notfällen sicherlich auch die Themen HNO, Auge und MKG. In diesem Beitrag soll es etwas um Augennotfälle bzw. den Symptomkomplex „akuter Visusverlust“ gehen.

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Zum Einstieg ein Fallbeispiel:

Ihr werdet mit dem Rettungswagen an einem Sonntagmittag im Frühling zum Stichwort „Schlaganfall/Hirnblutung“ alarmiert. Der Einsatzort befindet sich ca.14 Minuten, unter Nutzung von Sonder- und Wegerechten, entfernt. An der gemeldeten Adresse findet ihr ein Einfamilienhaus vor dessen Eingangstüre der mitalarmierte Helfer vor Ort (HvO) geparkt hat. Ihr werdet von Angehörigen ins Wohnzimmer geführt. Dort findet ihr einen älteren Herren (ihr schätzt um die 80 Jahre) sitzend auf einem Sessel vor. Dieser fixiert euch beim Eintreten direkt. In seiner Nase befindet sich eine Sauerstoffbrille. Auf den ersten Blick entdeckt ihr keine „Red Flags“ wie Zyanose, angestrengte Atmung oder ein auffälliges Hautkolorit. Der HvO übergibt euch folgende Vitalparameter:

  • SpO2: 97% unter 2 Liter Heimsauerstoff
  • Puls: 60
  • RR: 150 mmHg
  • AF: 20 /min.

Zum akuten Geschehen: Der Patient sei draußen unterwegs gewesen und habe auf dem Weg zur Haustür auf „rechts“ nichts mehr gesehen. Die genannte Symptomatik sei jetzt seit 30 Minuten anhaltend. Schmerzen gibt er keine an.

Ihr beginnt ein Anamnesegespräch und untersucht den Patienten neurologisch:

  • Keine weiteren Beschwerden (z.B. Schwindel/Kopfschmerzen), kein Trauma
  • BEFAST bis auf Eyes unauffällig:
    • Bulbusbewegung beidseits regelhaft in alle Richtungen
    • Kompletter Verlust der Sehkraft auf dem rechten Auge, linkes Auge unauffällig/Visus normal
    • Pupillen bds. mittelweit
      • rechts fehlt die Reaktion auf direktes Licht; bei Beleuchtung des linken Auges stellen sich jedoch beide Pupillen eng
  • Vorerkrankungen:
    • COPD mit Heimsauerstoff
    • Z.n. Schlaganfall
  • Medikamente
    • Bisoprolol
    • Ramipril
    • Salbutamol-Spray
    • Acetylsalicylsäure

Nun stellt ihr euch die Frage: Fahr ich diesen Patienten mit Verdacht auf Schlaganfall in die nächste geeignete Klinik mit Stroke Unit oder braucht es eine Augenklinik? Und wenn es ein Augenproblem ist – welche Pathologie steckt dahinter? Ist das ein zeitkritischer Patient?

Wenn ihr euch jetzt noch unsicher seid, wisst ihr die Antwort darauf nach diesem Beitrag!

Shortcut – das Nötigste zum visuellen System

Der Bulbus (Augapfel) besteht aus mehreren Schichten:

  • Netzhaut (Retina): Umwandeln von Lichtimpulsen in Nervenimpulse
  • Aderhaut: Versorgung der Netzhaut
  • Lederhaut: äußere Schicht; Schutzfunktion

Am hinteren Ende des Bulbus befindet sich der Eintritt des Sehnervs (N. opticus) mit Zentralarterie und -vene. Der Sehnerv transportiert zum einen afferente Informationen (Bilder) an den visuellen Cortex im Gehirn und efferente Informationen zurück an das Auge (Adaption).

Adaption ist die Anpassung der Pupille auf Lichteinfall. Die Iris dient als Blende und wird unwillkürlich gesteuert durch:

  • M. sphincter pupillae (Parasympathikus) -> Miosis
  • M. dilatator pupillae (Sympathikus) -> Mydriasis

Unter Akkommodation versteht man das Scharfstellen auf Nah und Fern. Möglich machen das die Ziliarmuskeln durch das Verändern der Linsenform über Zug bzw. Spannung der Zonulafasern.

Zwischen der hinteren und der vorderen Augenkammer zirkuliert Kammerwasser, das im Kammerwinkel der vorderen Augenkammer vom Schlemmkanal aufgenommen wird. Über diesen wird Kammerwasser ins venöse System drainiert. Der Zufluss wird durch das Trabekelmaschenwerk bestimmt. Die Hornhaut (Kornea) bricht einfallendes Licht.

Die Motorik des Auges wird gesteuert von insgesamt sechs Muskeln pro Seite. Innerviert werden diese durch die Nn. Trochlearis, Abducens oder Oculomotorius (Hirnnerven).

Der N. opticus umfasst jeweils eine nasale und eine laterale Faser. Am Chiasma opticum kreuzen die nasalen Fasern. Der Visuelle Kortex der rechten Gehirnhälfte verarbeitet das linke Gesichtsfeld und der linke Visuelle Kortex das rechte Gesichtsfeld.

Die wichtigsten Begriffe

VisusSehkraft oder auch Sehschärfe
OkulomotorikBewegung des Augapfels (Bulbus)
PupillomotorikAnpassungsfähigkeit der Pupille an Lichtverhältnisse
Direkter PupillenreflexDirekter Pupillenreflex (Reaktion des ipsilateralen Auges auf Licht)
Konsensueller PupillenreflexIndirekter Pupillenreflex (Reaktion des kontralateralen Auges auf Licht in das andere)
AnopsieUnfähigkeit zu sehen, partiell oder vollständig (Quadrantenanopsie/Hemianopsie)
SkotomAusfall oder Abschwächung von einem Teil des Sichtfeldes: Dunkler Fleck, Unschärfe oder Flimmern möglich
FingerperimetrieVereinfachte Untersuchung des Gesichtsfeldes mithilfe von Fingerbewegung

Die zentralen Fragen bei akutem Visusverlust

Akute Pathologien kommen selten an beiden Augen gleichzeitig vor. Da sich die beiden Nervi Opticus kreuzen und eine Hirnhälfte jeweils für das kontralaterale Gesichtsfeld beider Augen zuständig ist. Daraus lässt sich ableiten:

Ist ein Auge betroffen ist meistens eine okuläre Pathologie verantwortlich, bei Störung beider Augen die Ursache eher Zentral.

Es gibt schmerzlose und schmerzhafte Augenpathologien, daher bietet sich die Frage nach Schmerzen, nach der „Festlegung“ auf „Okuläre Ursache“, eine erste Einteilung.

Während ein Zentralarterienverschluss innerhalb von Sekunden aus Beschwerdefreiheit heraus eine komplette Anopsie bewirken kann, „bauen“ sich andere Krankheitsbilder langsamer „auf“, es gibt Prodromi oder sie nehmen an Intensität zu. Daher ist die Frage nach dem Verlauf in „akut“ oder „progredient“ ein sinnvoller Schritt.

„Klassisch“ für einen Schlaganfall wäre eine homonyme Hemianopsie – also ein halbseitiger Gesichtsfeldausfall auf der gleichen Seite mit Beteiligung beider Augen.

Die wichtigen Differenzialdiagnosen bei einem betroffenen Auge:

Mit den Fragen ob ein oder beide Augen betroffen sind und ob Schmerzen bestehen kann

  1. zwischen zentraler Ursache und Augenproblem unterschieden
  2. und zwischen zwei „Gruppen“ von akut relevanten Augenpathologien eingegrenzt werden.

Nimmt man jetzt eine strukturierte Augenuntersuchung und Risikofaktoren hinzu ist man schnell auf dem richtigen Weg.

Risikofaktoren/Vorerkrankungen

  • Trauma? -> traumatische Augen-/Orbitaverletzung?
  • Rheumatische VE -> Riesenzellarteriitis?
  • Kardiovaskuläre VE -> Zentralarterienverschluss/Stroke?
  • Weit- oder Kurzsichtigkeit -> Glaukom/Netzhautablösung?
  • Kontaktlinse -> Konjunktivitis/Keratitis?
  • Z.n. Operation an den Augen -> Endophthalmitis?

(notfallmedizinische) Augenuntersuchung

  1. Auffälligkeiten sichtbar?
    • Rötung? Eiter?
    • Fremdkörper?
  2. Visus (Augen getrennt beurteilen): „Sehen Sie so wie sonst auch?“
  3. Okulomotorik: auf 3/6/9/12 Uhr schauen lassen
    • Bei eingeschränkter Motorik: Nerven-/Augenmuskel defekt
  4. Fingerperimetrie: jedes Auge einzeln untersuchen und alle 4 Quadranten testen
  5. Pupillomotorik
    • Pupillenstellung seitengleich und entsprechend der Lichtverhältnisse?
    • Direkter und konsensueller Pupillenreflex
  6. Ggf. Ektropionieren: Anheben der Augenlider -> Fremdkörper?
  7. Ggf. Bulbuspalpation: testen der Bulbushärte mit 2 Fingern im Seitenvergleich (Glaukomanfall)
  8. Ggf. Augensonographie -> Artikel wird folgen

Schmerzlose Pathologien

Zum Vergrößern: Rechtsklick -> in neuem Tab öffnen

Schmerzhafte Pathologien

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Zurück zum Fall vom Anfang

Die Befunde, bezogen auf die Augen, lassen folgend zusammenfassen:

  • nur ein Auge ist betroffen
  • keine Schmerzen
  • akuter und vollständiger Visusverlust/Anopsie
  • Kardiovaskuläres Risikoprofil
  • ein erhaltener konsensueller Pupillenreflex und erhaltene Okulomotorik

Daraus lässt sich ableiten, dass ein Zentralarterienverschluss die dringendste Verdachtsdiagnose ist. Ihr leitet also einen zeitkritischen Transport unter Voranmeldung in eine Augenklinik ein.

Kernaussagen zur Differenzierung bei Visusverlust

Strukturierte Fragen und Untersuchung!

  1. Ein Auge oder beide Augen betroffen?
  2. Schmerzhaft oder Schmerzlos?
  3. Akut oder progredient aufgetretene Symptomatik?
  4. Risikofaktoren
  5. Augenuntersuchung

Zum akuten Visusverlust werden wir eine Einheit in Version 25 erstellen 😉

Inspiriert und begeistert für dieses Thema hat mich Dorothea Sauer 2022 mit ihrem Vortrag beim Rettungsdienstkongress – danke dafür!

Außerdem danken wir Dr. Judith Gal, Simone Brandtner, Sara Beck und Michael Stanley für das Peer Review!

Für weitere Krankheitsbilder mit akutem Visusverlust schaut auch unbedingt bei notfallneurologie.de vorbei!

Quellen:

  • Neurologische Notfälle. Topka H, Eberhardt O, Hrsg. 2., überarbeitete Auflage. Stuttgart: Georg Thieme Verlag KG; 2023. doi:10.1055/b000000450
  • Lang G, Lang S, Hrsg. Augenheilkunde. 7., überarbeitete Auflage. Stuttgart: Georg Thieme Verlag KG; 2024. doi:10.1055/b000000869
  • https://www.msdmanuals.com/de/heim/knochen-gelenk-und-muskelerkrankungen/entz%C3%BCndliche-erkrankungen-der-blutgef%C3%A4%C3%9Fe/riesenzellarteriitis
  • Lang G, Lang G. Retinale Arterienverschlüsse. In: Lang G, Lang S, Hrsg. Augenheilkunde. 7., überarbeitete Auflage. Stuttgart: Georg Thieme Verlag KG; 2024. doi:10.1055/b000000869
  • Andreae S, Avelini P, Berg M, Blank I, Burk A, Dierolf A, Dockter G, Dold C, Evers M et al., Hrsg. Lexikon der Krankheiten und Untersuchungen. 2. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2008. doi:10.1055/b-0034-58808
  • UpToDate. Jacobs DS, Li H, editors. Angle-closure glaucoma. Weizer JS, author. oct 2023.
  • UpToDate. Trobe J, Wilterdink JL, editors. Central and branch retinal artery occlusion. Hedges TR, author. jul 2023.
  • UpToDate. Warrington KJ, Trobe J, Seo P, editors. Clinical manifestation of giant cell arteritis. Salvarani C, Muratore F, authors. may 2025.
  • UpToDate. González-Scarano F, Brazis PW, Wilterdink JL, editors. Optic neuritis: Prognosis and treatment. Osborne B, Balcer LJ, authors. jun 2024.
  • UpToDate. González-Scarano F, Brazis PW, Wilterdink JL, editors. Optic neuritis: Pathophysiology, clinical features and diagnosis. Osborne B, Balcer LJ, authors. feb 2024.

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